Den Placebo-Effekt kennen vermutlich die meisten von uns. Eine positive oder heilende Wirkung tritt bei der Einnahme eines Medikaments oder bei einer Behandlung auf – obwohl kein Wirkstoff enthalten ist. Die Patienten wissen also nicht, dass sie kein echtes Medikament zu sich nehmen. Man spricht hier auch von einer Scheinbehandlung. Weniger bekannt ist jedoch das Gegenstück, der sogenannte Nocebo-Effekt. Um dieses medizinische Phänomen soll es im folgenden Artikel gehen.
Nocebo – „Ich werde schaden“
Der Begriff Nocebo macht erst seit einigen Jahren die Runde. Das Phänomen an sich ist aber bereits sehr viel länger bekannt. Nocebo leitet sich vom lateinischen nocere = „schaden“ ab und bedeutet frei übersetzt „Ich werde schaden“. Das positive Gegenstück lautet Placebo: „Ich werde gefallen“. Und damit ist eigentlich auch schon klar, worum es geht. Der Effekt bezeichnet vereinfacht gesagt eine Reaktion auf scheinbare beziehungsweise eingebildete negative Auswirkungen durch äußere Faktoren. Dazu gehören Medikamente, aber auch Behandlungen und Diagnosen. In einer weitergefassten Definition spricht man auch dann vom Nocebo-Effekt, wenn der bloße Zweifel an einer Therapie deren Wirksamkeit einschränkt.
Die meisten der Nebenwirkungen, über die Betroffene klagen, sind psychosomatisch. So sind sie weitgehend subjektiver Natur, wie Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Übelkeit. Es sind aber auch objektive Auswirkungen feststellbar. Hierzu gehören beispielsweise Hautausschlag oder erhöhter Blutdruck. Die Effekte können sowohl leicht und vorübergehend als auch chronisch sein – in einigen wenigen Extremfällen waren sie sogar tödlich[1]. Der Nocebo-Effekt tritt nachweislich häufiger bei Frauen als bei Männern auf. Ältere Patienten sind eher betroffen als jüngere.
Die Erwartungshaltung entscheidet
Genau wie der Placebo-Effekt beruht auch der Nocebo-Effekt wesentlich auf einer bestimmten Erwartungshaltung. Diese kann auch völlig unbewusst vorliegen, falls beispielsweise Konditionierungen die Ursache sind. Wenn der Patient fürchtet, dass bestimmte Einwirkungen ihn „krank machen“ könnten, treten diese Symptome häufig tatsächlich auf. Und das messbar. Daher muss ganz klar betont werden: Es handelt sich nicht um eine Einbildung von Symptomen. Diese sind oft nachweisbar vorhanden. Zudem haben Studien mit Hirnscans ergeben, dass während des Prozesses die schmerzverarbeitenden Regionen im Gehirn aktiv sind. Das Gehirn spürt also Schmerz trotz fehlender Reizung der Schmerzrezeptoren. Man kann auch von einer selbsterfüllenden Prophezeiung sprechen.
Ähnliche Effekte zeigen sich bei pessimistischen und ängstlichen Menschen. Die Heilungsprozesse verlaufen bei ihnen aufgrund negativer Erwartungen deutlich langsamer ab. Oder sie beginnen gar nicht erst. Studien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) konnten zeigen, dass Krebspatienten, die glauben ein neues Medikament zu erhalten, zu über 70 % mindestens zwei neue Symptome entwickelten. Auch dann, wenn sie kein anderes Mittel bekamen als vorher. Warnt ein Arzt seinen Patienten vor etwaigen Nebenwirkungen eines Medikaments oder einer Behandlung, treten diese im Schnitt dreimal häufiger auf.
Die Ursachen liegen weitgehend im Dunkeln – der Effekt ist aber erklärbar
Wie lassen sich diese Phänomene erklären? Sie werden verstehbar, wenn wir uns bewusst machen, dass Ängste unsere körperlichen Funktionen beeinflussen können. Zu nennen sind hier das Herz-Kreislauf-System sowie das Immunsystem. Auf diese Weise werden biochemische Prozesse in Gang gesetzt, die in der Folge körperliche Veränderungen bewirken.
Über die zugrundeliegenden Ursachen für den Nocebo-Effekt weiß man noch nicht allzu viel. Nach derzeitigem Stand spielen aber wie erwähnt vor allem Konditionierung und Erwartungshaltung eine entscheidende Rolle.
Neurochemische Erklärungsansätze – Cholecystokinin und Endorphin
Zusätzlich lassen sich neurochemische Erklärungen finden. Vermutlich ist der Botenstoff Cholecystokinin aus unserer Darmschleimhaut dabei von großer Bedeutung. Dieser löst im Gehirn eine Schmerzreaktion aus und übernimmt auch bei Phobien eine wichtige Funktion. Ausgelöst wird er wahrscheinlich durch Angst und ist daher wohl auch für das verstärkte Auftreten von Nebenwirkungen verantwortlich, wenn der Patient diese erwartet. In Placebo-kontrollierten Doppelblindstudien, die bei Neuzulassungen von Medikamenten oft üblich sind, berichtet etwa ein Viertel der Placebo-Gruppe über Nebenwirkungen. Im Übrigen sind diese Effekte auch bei Tieren zu beobachten! Es gibt noch einen weiteren neurochemischen Zusammenhang. Wenn der Patient eine negative Wirkung erwartet, sinken seine Endorphine. Dadurch sinkt wiederum die Stimmung, er fühlt sich tatsächlich schlechter und es beginnt eine Art Teufelskreis.
Das Auftreten des Nocebo-Effekts wird außerdem durch unterschiedliche Faktoren begünstigt. Wir sprachen schon von der Erwartungshaltung. Diese wird stark beeinflusst durch das persönliche Umfeld des Patienten. Sogar Umstände wie Gerüche oder Geräusche können einen Einfluss haben, Medienberichte ebenso. So kann es beispielsweise Krebspatienten schlecht werden, wenn sie in einen Raum kommen, der die gleiche Wandfarbe wie ihr Chemotherapie-Behandlungsraum hat. Viele Krebspatienten sterben auch nicht an Krebs selbst, sondern an der Erwartung eines frühen Todes. Wenn alle Beteiligten fest daran glauben, dass nur noch wenige Monate zu leben bleiben, tritt genau dies oft auch ein.
Ärzte stehen vor einem ethischen Dilemma
Das Problem: Um den Nocebo-Effekt beim Patienten zu vermeiden, müsste zunächst das medizinische Personal mehr Bewusstsein für die Thematik entwickeln. Das ist vor allem eine Frage der angemessenen, offenen Kommunikation zwischen Arzt und Patient. So können eigentlich aufmunternd gemeinte Sprüche wie „Wir schläfern Sie gleich ein“ kurz vor einer Operation in einigen Patienten durchaus so etwas wie Panik auslösen. Dies ist vor allem bei besonders ängstlichen Patienten und in Extremsituationen, wie eben kurz vor einer OP, der Fall. Stattdessen sollten Mediziner mit positiven Formulierungen arbeiten. Diese sind bereits sehr einfach umzusetzen. Beispielsweise könnte der Arzt statt „5% aller Patienten vertragen dieses Medikament nicht“ genauso gut sagen „95% der Patienten vertragen dieses Medikament problemlos“.
Für die Ärzte liegt hier ein ethisches Dilemma vor. Auf der einen Seite sind sie selbstverständlich zur Aufklärung des Patienten verpflichtet. Auf der anderen Seite gilt aber für jeden Arzt auch der medizinische Grundsatz Primum nil nocere, dem Patienten „zuerst einmal nicht schaden“. Dieses Risiko bleibt immer dann bestehen, wenn sie die Patienten aufklären.
Mögliche Lösungsansätze
Verschiedene Lösungen für diese Zwickmühle werden ausgiebig diskutiert. Denn: Der Nocebo-Effekt hat neben den bereits erwähnten noch weitere negative Folgen. Durch die Nichteinnahme von Medikamenten entstehen jährlich schätzungsweise bis zu 13 Mrd. Euro Schaden. Des Weiteren gibt es auch eine ganz entscheidende ethische Dimension der Problematik. Immerhin muss man für die Studien gesunden Patienten Leid zumuten.
Entscheidend ist in jedem Fall die Einwilligung des Patienten in eine entsprechende Praxis im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung. Vor allem die erwähnte positive und offene Kommunikation sowie ein entsprechendes Framing scheinen hier wichtige Faktoren zu bilden.
Offene Kommunikation statt weniger Information
Natürlich kann die Lösung nicht darin bestehen, den Patienten wichtige Informationen vorzuenthalten. Entscheidend ist daher vielmehr, diese angemessen einzubetten. Man kann aber in jedem Fall sagen, dass Patienteninformationen nicht automatisch von Vorteil sind. Das bestätigt auch die noch junge Nocebo-Forschung. Umfragen haben ergeben, dass sich vor allem ältere Patienten und solche mit geringerem Bildungshintergrund eindeutige Ratschläge von ihren Ärzten wünschen. Diese Gruppe empfindet zu viele Informationen eher als überfordernd. Daher ist die Erkenntnis wichtig, dass Patienten unterschiedlich sind und verschiedene Anforderungen und Wünsche haben. Für Ärzte bedeutet das: Empathie und Feingefühl sowie das Wissen über die Wirkungszusammenhänge.
Ein weiteres Problem besteht im häufig subjektiven und unspezifischen Charakter der Symptome. Kopfschmerzen oder Müdigkeit sind schwer messbar. Daher ist oft nicht klar, ob es sich um den Nocebo-Effekt oder um von diesem unabhängige Symptome handelt.
In jedem Fall ist Schweigen seitens der Ärzte die falsche Herangehensweise. Im Zeitalter des Internets kann ohnehin jeder Patient sämtliche Nebenwirkungen, die er wissen möchte, in Erfahrung bringen. Die Aufgabe des Arztes besteht daher im Einfühlungsvermögen und der Mitarbeit, nicht im Abblocken oder einer Verweigerungshaltung.
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